Warum Entwicklungskalender Eltern in die Irre führen

Wann krabbeln eigentlich Kinder, wann lernen sie sitzen, wann laufen sie? Entwicklungskalender sollen Eltern über Entwicklungsschritte informieren. Angaben über zeitliches Eintreten von sogenannten Meilensteinen sollen Anhaltspunkte über ‚normale‘ Entwicklung liefern und bei zu großen Abweichungen Anlass für ein Gespräch beim Kinderarzt sein. Einige Kalender paaren ihre Angaben mit Fördermaßnahmen, wie z. B. das Drehen junger Babys auf den Bauch. Schließlich sollen sich alle Kinder normal oder besonders schnell entwickeln. Doch Entwicklungskalender weisen aus wissenschaftlicher Sicht viele Probleme auf, die nicht nur ihren Anspruch auf Gültigkeit ins Wanken bringen.

Empfehlung einer Entwicklungstabelle, die du benutzen kannst, wenn du Unsicherheit in Bezug auf die Bewegungsentwicklung deines Kindes verspürst und eine zweite Meinung brauchst, folgt im zweiten Teil.

Quellenangaben sind rar

Beginnen wir mit einem offensichtlichen Manko der Entwicklungskalender: Auf bekannten Internetseiten besonders für junge Eltern wie windeln.de oder rund-ums-baby.de fehlen die Quellenangaben. Mir drängt sich ein Eindruck auf, dass sich auf solchen Plattformen Wissen über Meilensteine, ihre Reihenfolge und zeitliches Eintreten ohne wissenschaftliche Grundlage verbreitet und so als allgemeingültig etabliert wird.

Meilensteine dienen eigentlich der Forschung und Diagnostik. Solche Instrumente sind für Eltern nicht automatisch eine Hilfe.

Entwicklungskalender platzieren Meilensteine auf eine Zeitachse mit einem Monatsraster. Das bedeutet, dass du für das jeweilige Monatsalter deines Kindes abgleichen kannst, welche Fähigkeiten ‚normale‘ Kinder aufzeigen. Du sollst – so das implizite Ziel – für die Entwicklung deines Kindes sensibilisiert und damit befähigt werden, Entwicklungsverzögerungen und Auffälligkeiten möglichst früh mit einem Arzt zu besprechen.

Meilensteine sind aber ein Instrument, das diagnostischen und wissenschaftlichen Zwecken dient. Sie wurden jedoch zu Orientierung für Eltern 1-zu-1, also ohne konzeptionelle Überlegungen übertragen.

“Meilensteine“ sind Aktivitäten, die ein normales Kind in bestimmten chronologischen Stadien erreicht. Sie sind isoliert und aus dem Zusammenhang einer vielseitigen Entwicklung herausgenommen. Sie werden benutzt, um den motorischen und geistigen Fortschritt eines Kindes zu testen und haben ihren Wert bei der Feststellung und Diagnose motorischer und geistiger Retardierung, besonders bei den Fällen, wo man keine Zeichen pathologischer Abweichungen findet. Die Entwicklung geht jedoch nicht in einer linearen Folge einzelner „Meilensteine“ voran. In jedem Stadium einer Entwicklung, so, wenn das Kind einen spezifischen „Meilenstein“ erreicht, erlangt es auch viele andere und gleichwichtige Fertigkeiten, die zu demselben Stadium gehören.“ (Bobath)

Weder gibt es eine Begründung für ihre Auswahl, noch eine wasserfeste Grundlage für Zeitangaben. Auch eine Reflexion von möglichen Wirkungen von Entwicklungsangaben auf Eltern, wie z. B. unnötiges Verunsichern ist mir nicht bekannt.

Kopfkontrolle ist eine Untersuchungsmethode – weder ein Meilenstein, noch Anlass für ein Training – erste Annäherung an ein konzeptionelles Problem

In den ersten Lebenswochen ist die Beobachtung des Säuglings in der Bauchlage Methode einer neurologischen Untersuchung, die „sowieso weitgehend unbrauchbar [ist], da sie keine Beurteilung seiner Entwicklung erlaubt (Baumann). Der Kinderarzt überprüft in der Bauchlage den Muskeltonus, das Beugemuster und mögliche Asymmetrien. Hier drängt sich die These auf, dass diese Untersuchungsmethode – ohne eine theoretische Begründung – zu einem Meilenstein in der Bewegungsentwicklung wurde.

So dreht sich in den ersten Lebenswochen alles um die Haltung des Kopfes in der Bauchlage und damit die Beschränkung der Bewegungsentwicklung auf die Ausbildung der Nacken- und Nackenmuskulatur.

Um diese zu forcieren oder wie man es gerne heute sagt ‚zu fördern‘, sollen Babys bereits in den ersten Lebenswochen regelmäßig auf den Bauch gelegt und bei Signalen des Unwohlseins mit Spielzeugen abgelenkt werden. Der Erfolg dieses Trainings wird an der Länge des Aushaltens und dem Winkel des Kopfes zur Unterlage gemessen. Liegt hier ein großes Missverständnis vor?

Das Halten des Kopfes ist Ergebnis einer organischen Entwicklung des Gleichgewichts UND der gesamten Muskulatur. Die Muskulatur und das Gleichgewicht entwickeln sich anfangs in der Rückenlage, später der Seitlage und erst dann der Bauchlage. Durch die gängigen Empfehlungen wird dieser komplexe und naturgegebene Prozess drastisch gestört, eine harmonische bzw. organische Bewegungsentwicklung damit verhindert.

An diesem ‚Übersetzungsfehler‘ und seinen Folgen lässt sich beispiellos darstellen, wie eine Untersuchungsmethode über den Weg einer bloßen Information zu schmerzhaften Trainings und dem Beginn einer gestörten Bewegungsentwicklung werden kann. Inwiefern solche Trainings für Eltern ein Desensibilisierungstraining werden können, weil sie darauf beruhen, auf Signale des Unwohlseins mit Ablenkung zu reagieren, ist eine Frage an die Bindungsforschung.

Entwicklungskalender beschränken sich auf eine unbegründete Auswahl an Positionen und Bewegungen

Sich auf den Bauch drehen, krabbeln, sitzen und laufen sind die prominentesten Meilensteine in den Entwicklungskalendern. Diese stellen jedoch eine kleine und unbegründete Auswahl aus einer großen Vielfalt von Bewegungen und Positionen und damit bedeutsamen Schritten in der Bewegungsentwicklung dar. Diese eingeschränkte Auswahl verhindert sträflich die Wahrnehmung der vielen kleinen Schritte auf dem Weg zum freien Gehen. So sind z. B. die Seitlage, der seitliche Ellenbogenstütz, die Hocke oder der Bärengang ein Ausdruck von Entwicklung und damit ein Grund zu Freude und könnten ebenso als Meilensteine gesetzt werden.

Entwicklungskalender suggerieren eine bestimmte Reihenfolge von Entwicklungsschritten
Ja, es gibt sie: Hinweise auf die individuelle Entwicklung. Trotzdem suggerieren Entwicklungskalender eine bestimmte Reihenfolge von Schritten. Dabei zeigt die Forschung von Emmi Pikler, Anna Tardos, Agnès Szántó und vielen anderen, dass sich die Entwicklung ab dem Rollen für ein Kind nicht vorhersagen lässt. Ob ein Kind Lageveränderungen (seitlicher Ellenbogenstütz, Knie-Hände-Stütz usw.) oder Ortsveränderungen (Kriechen, Robben, Krabbeln) macht, ist nicht festgelegt.

Sind Säuglinge tatsächlich auf manipulative Eingriffe angewiesen? Ist die Drehung auf den Bauch nur möglich, wenn Babys regelmäßig in diese Lage versetzt werden? Können sie sitzen lernen, wenn sie zunächst von z. B. Kissen gestützt werden? Können sie laufen lernen, wenn sie zunächst das Laufen an der Hand des Erwachsenen trainieren? Wenn es nach den gängigen Entwicklungskalendern gehen soll, dann ja. Eine Bewegung oder Position, die ein Kind nur mithilfe eines Erwachsenen machen kann, wird wie selbstverständlich mit den jeweiligen Zeitangaben dargestellt:

Wenn Sie es hinstellen und an den Händen halten, kann Ihr Kind möglicherweise bereits einige Sekunden lang aufrecht bleiben. Doch ist das Ganze noch eine recht wackelige Angelegenheit: Ihr Kleines kann in aufrechter Haltung das Gleichgewicht noch nicht halten.“

Ich möchte festhalten, dass die gängige Auswahl der Meilensteine, ihre Reihenfolge und Zeitpunkte auf keinerlei kontollierten Studien beruhen. Eine konzeptionelle Begründung von pädagogischen Empfehlungen ist nicht ersichtlich. Im letzten Zitat wird deutlich, dass der Autor durchaus wahrnimmt, dass das Kind für das Laufen noch nicht bereit ist. Dass Erwachsene solch ein Kind trotzdem an den Händen führen sollen, entbehrt jeglicher Logik.

Inwiefern haben Entwicklungskalender das Potenzial, die Beziehung zwischen Eltern und Kinder zu stören?

Entwicklungskalender sollen zwar über eine gesunde Bewegungsentwicklung bloß informieren und eine Orientierung bieten. Allerdings etablieren sie mehr oder minder unfreiwillig Erwartungen einer normalen Entwicklung.
Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird u. A. durch das Bild vom Kind geprägt. Die Antwort auf die Frage „Als wen sehe ich mein Kind?“ ist ein Ergebnis komplexer Vorgänge, wie z. B. die eigene Biographie, Geschwisterkinder, Beobachtungen von anderen Kindern, Urteile von Professionellen über das Kind und schließlich Entwicklungskalender. Habe ich Erwartungen an den Charakter, Interessen, soziales Verhalten, setze ich mein Kind in ein Verhältnis zu diesen Erwartungen. Ist die Differenz zwischen Erwartung und Realität zu groß, kann sich eine große Enttäuschung einstellen. Das Kind empfängt dann die Botschaft: Ich bin nicht gut genug für dich und bemüht sich entweder die Lücke zu schließen und/oder integriert die Botschaft in sein Selbstbild. In der Bewegungsentwicklung liefern Entwicklungskalender Futter für Erwartungen einer Normalität. Entwickelt sich ein Kind langsam, weil der angeblichen Normalität nicht entsprechend, sind Eltern besorgt und verunsichert: Sie hinterfragen sich – manchmal sehr stark. Je länger die Verunsicherung dauert, desto mehr kann sich eine Enttäuschung vom Kind einstellen. Beides beeinflusst die Beziehung.

Wenn du solche Tendenzen verspürst, möchte ich dir im nächsten Teil eine Alternative vorstellen. Vielleicht wird dir diese zweite Meinung ein Tor zu einer anderen Welt eröffnen.
Dieser Grundlagenartikel ist das Ergebnis von Beobachtungen und schließlich eine Sammlung von Thesen, die auf eine empirische Überprüfung warten. Ich möchte dich einladen, deinen Eindruck in den Kommentaren zu schildern. Da ich als Elternteil Prozesse der Verunsicherung durchlebt habe, möchte ich euch ähnliche schmerzhafte Erfahrungen ersparen. Der zweite Teil stellt eine mögliche Lösung dar, um aus dem Dickicht von Normentwürfen und Urteilen zu entkommen.
  • 8 years ago
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