Warum ist ein Kind, welches mit neun Monaten nicht sitzt oder krabbelt nicht entwicklungsverzögert? Was kannst du tun, wenn dein Kind mit neun Monaten nicht sitzt oder krabbelt? Was, wenn es mit sechzehn Monaten nicht läuft? Was, wenn es sich mit sechs Monaten immer noch nicht auf den Bauch dreht? Schließlich sind solche Kinder beim Kinderarzt schon längst als entwicklungsverzögert etikettiert worden.
Zunächst mal gar nichts.
Die meisten Eltern schauen in Entwicklungskalendern nach, um zu erfahren, wann Kinder welche motorischen Fähigkeiten erwerben.
Ich stelle dir eine Alternative zu den gängigen Entwicklungskalendern vor – einen wertvollen Kompass zu Gelassenheit.
Der Entwicklungsbogen von der Kinderärztin Judit Falk
Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage ist der Entwicklungsbogen entstanden?
Dr. Emmi Pikler und Anna Tardos haben im Pikler-Institut in Budapest die motorische Entwicklung von hunderten von Heimkindern untersucht, die alle unter identischen Bedingungen aufgewachsen sind:
- Die Babys und Kleikinder lebten in einer Umgebung, die ihr Bedürfnis nach dem Entdecken des Körpers und seinen Bewegungsmöglichkeiten gestillt hat. Diese Kinder lagen z. B. ab ca. drei bis vier Monaten auf einer festeren Unterlage und hatten bis zum freien Gehen genug Fläche und Geräte (Kiste, Sprossendreieck, Treppen…) zur Verfügung.
- Die Pflegerinnen haben in die Bewegungsentwicklung nicht eingegriffen.
Alle Kinder hatten eine gute Beziehung zu ihren Pflegerinnen und erlebten einen friedlichen und respektvollen Umgang. Da das Geburtsgewicht (und nicht das errechnete Geburtsdatum) die zeitliche Entwicklung beeinflusst, wurden die Kinder in vier Gewichtsgruppen eingeteilt. Die Angaben in der Tabelle von Judit Falk beziehen sich auf eine typische Gewichtsgruppe.
Dass die untersuchten Kinder unter identischen Bedingungen aufgewachsen sind, hat eine große Bedeutung für die Kontrolle der Untersuchung:
Die meisten Studien können entscheidende ‚Störfaktoren‘ nicht kontrollieren, da sie nur auf Befragungen von Eltern oder Beobachtungen im Labor beruhen. Die Wissenschaftler wissen nicht, inwieweit Erwachsene die Entwicklung beeinflusst haben und in welcher Umgebung die Kinder aufgewachsen sind. Ob ein Baby bereits ab drei Monaten genug Fläche zur Verfügung hat oder viel Zeit im Bettchen oder Transportmitteln verbringt, beeinflusst den Verlauf der Entwicklung: Ein zu langer Aufenthalt in Autositzen (im Auto oder auf einem Gestell), Babyhopsern und ähnlichen Geräten, die in den ersten Monaten die Entwicklung des Gleichgewichts auf dem Rücken und der Entwicklung der Seit- sowie Bauchlage verhindern.
Genauso entscheidend ist, ob Erwachsene die Babys in Positionen versetzen, die sie selbständig nicht einnehmen können: Gemeint sind
- das Drehen der Kinder auf den Bauch,
- das abgestütztes Hinsetzen,
- das Aufstellen und Führen an den Händen bevor die Kinder diese Positionen und Bewegungen selbständig erreicht haben.
Die gängigen Entwicklungstabellen können maximal einer groben Orientierung dienen.
Ein Kind darf nur mit sich selbst verglichen werden.
Wann du professionelle Hilfe brauchst
Die meisten Eltern haben ein sehr gutes Gespür dafür, ob es ihren Kindern gut geht.
1. Wie geht es deinem Baby? Das ist die erste Frage, bevor du dir Sorgen über seine motorische Entwicklung machen solltest. Vom emotionalen Zustand deine Babys hängt ab, inwiefern es sich sicher fühlt. Sein Sicherheitsgefühl hängt wiederum von der Qualität der Beziehung zu dir ab.
2. Die zweite Frage, die du dir stellen kannst, ist die nach den Interessen deines Kindes. Womit beschäftigt es sich am liebsten?
Dafür kannst dem Entwicklungsbogen vom Pikler-Institut entnehmen, was du bei deinem Baby beobachten kanns:
- die Entdeckung der Hände und das Spiel mit ihnen,
- die Versuche, einen Gegenstand zu erreichen, ihn später zu ergreifen,
- einen Gegenstand von einer in die andere Hand zu legen,
- mit einem Gegenstand klopfen, ihn schwingen oder fallen lassen,
- das Spiel mit zwei Gegenständen, wie z. B. das Zusammenschlagen oder Aufeinanderstellen,
einen Gegenstand in ein Gefäß legen, einen Gegenstand wieder aus einem Gefäß herausholen,
ähnliche Gegenstände sammeln bis zum Bilden von Reihen.
Die Bewegungsentwicklung hängt also mit der Beziehungsqualität und der Spielqualität zusammen.
Professionelle Hilfe brauchst du dann, wenn es dir und deinem Kind nicht gut geht, wenn dein Kind nicht ins Spiel kommt.
Ärzte und Physiotherapeuten greifen in der Regel viel zu früh mit sogenannten Fördermaßnahmen ein. Wenn du bereits in diesem Prozess bist, kann ich dir ruhigen Gewissens eine umfassende Diagnostik empfehlen, die bei der Pikler-Gesellschaft in Berlin durchgeführt wird.
Als hilfreiche Lektüre hat sich das Buch „Das Sorgenkind im ersten Lebensjahr“ von Monika Aly erwiesen.
Fazit
Was altersgemäß ist, was dein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt können muss, wirkt enorm auf dein Kind und eure Beziehung.
Mit der Tabelle von Judit Falk kannst du dich von Vorstellungen, welches Kind normal und welches nicht normal ist, verabschieden. Sie kann dich beruhigen. Dein Baby wird deine Ruhe spüren. In dieser Atmosphäre wird es ins freie Erkunden seines Körpers kommen.
Welche Erfahrungen hast du mit ‚Diagnosen‘ und ‚Therapien‘ gemacht?
Wie gehst du mit Entwicklungskalendern um?