„Gibt es bei euch eigentlich eine Einschulung?“, fragte eine Mutter auf einem Infoabend einer freien Schule. „Ja, klar“, sagte die Pädagogin.
Die Einschulung ist zwar ein einmaliges Ereignis, an das wir uns vielleicht nur wage erinnern können. Doch ist sie für die meisten Kinder eine enorm wichtige Initiation:
- Nur diejenigen, die eine bestimmte Reife erreicht haben, die hauptsächlich durch das Alter bestimmt wird, dürfen in die Schule.
- Von einem Außenstehenden wird das Kind zum festen Mitglied der Schulgemeinschaft.
- Durch die Einschulung steigt das Kind im Bildungssystem auf: Vom Kindergarten- zum Schulking.
Die Einschulung ist zwar besonders in Deutschland untrennbar mit der Schulpflicht verbunden und damit der Beschränkung von Grundrechten. Allerdings erleben es viele Kinder als ein „Dürfen“ und ein „Endlich“.
Die Einschulungsfeiern an staatlichen Schulen ähneln sich sehr: Eine kleine Vorführung der älteren Jahrgänge, die Einschulungsrede des Schulleiters, die Zuordnung der Kinder nach Klassen, ein kleiner Ausflug in den neuen Klassenraum.
Freie Schulen nehmen in der Regel nur eine Handvoll Kinder jährlich auf, so dass bereits der Aufruf einzelner Schulanfänger und die Klassenzuordnung hinfällig wird.
Wie gestaltet eine freie Schule die Initiation?
Wird die „Pädagogik vom Kinde aus“ bereits in der Einschulungsfeier sichtbar?
Offenbart sich dagegen an der Initation das Bedrohungspotenzial der staatlichen Schule?
Können Eltern bereits an der Rede des Schulleiters erkennen, was den Kinder in den nächsten Jahren blüht?
In diesem Artikel gehe ich in Kürze auf die ernüchternde Untersuchung von Einschulungsreden von Sandra Rademacher((http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2012/methoden/objektive-hermeneutik/sandra-rademacher/einschulungsrede-%E2%80%93-misslingen-der-initiation-trost-und-bedrohung/)) ein und zeige einen Unterschied zu der Einschulung meines Sohnes an einer freien Schule in Berlin auf.
„Misslingen der Initiation, Trost und Bedrohung“
heißt der Artikel von Sandra Rademacher und lässt nichts Gutes ahnen. Rademacher untersuchte Einschulungsreden von Schulleitern mit einer Methode, die kleine Redeausschnitte äußerst genau unter die Lupe nimmt. Zeichnet sich in einem Ausschnitt eine Hypothese aus, wird sie an weiteren Ausschnitten überprüft((Objektive Hermeneutik)).
Das Ergebnis ist zum einen zu erwarten und doch erschreckend: Die Schulleiter scheitern bereits an der Begrüßung!
Einer der Schulleiter begrüßt anstatt die Kinder die Eltern zu ihrem ersten Schultag.
In einer anderen Rede wird durch das kleine Wörtchen zunächst mal die Einschulung zu einer Nebensache degradiert.
Eine Schulleiterin schießt den Vogel ab. Sie spricht die Kinder als Herrschaften an:
Die abfällige Bezeichnung Herrschaften taucht normalerweise in mahnenden Zusammenhängen auf: Herrschaften, Ruhe! Oder Herrschaften, so nicht!((http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2012/methoden/objektive-hermeneutik/sandra-rademacher/einschulungsrede-%E2%80%93-misslingen-der-initiation-trost-und-bedrohung/))
Die von Rademacher verwendete Untersuchungsmethode befördert zur Tage, was im Alltag nur peripher wahrgenommen wird, jedoch eine enorme Wirkung auf die Entstehung der Identität der Kinder als Schulkinder als solche hat. Ob lächelnd oder ernst vorgetragen: Als Herrschaften angesprochen zu werden, macht die Kinder zu potentiellen Kandidaten für millionenfache alltägliche Mahnungen an Schulen. Die Anfänger bekommen einen kleinen Vorgeschmack auf die eine der prominentesten Rollen an Schulen: Der Störenfried.
„Die Angst wird zur realen Option“
Schulangst und Angst in Zusammenhang mit den Anforderungen der Schule gehören unmittelbar zusammen: Jeder hat in seiner Schulgeschichte Angst erlebt. Doch eine Einschulung verbindet wohl kaum jemand mit Angst. Und doch hat eine Schulleiterin in ihrer Einschulungsrede die (Schul)angst direkt angesprochen:
Und ich hoff’nur eins, dass es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht.
Die Schule präsentiert sich den Kindern mit ihrem Bedrohungspotenzial. Rademacher findet in dieser Rede weitere Ausschnitte, die sie als Trost und Bedrohung zugleich entlarvt.
Die Schulforscherin überzeugt in der abschließenden Deutung mit ihrer Hauptthese: Die Schule hat ein Identitäts- und ein Beziehungsproblem. Den Pädagogen ist zwar das Bedrohungspotenzial der Schule bewusst, aber es fehle
gänzlich eine Bezugnahme auf Positivität und die positiven Seiten schulischer Praxis. […] Es wird keine Vorfreude auf Erkenntnis angesprochen […], keine Vorfreude auf gute Noten, auf interessante Fächer, gute Lehrer und Ähnliches.((http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/2012/methoden/objektive-hermeneutik/sandra-rademacher/einschulungsrede-%E2%80%93-misslingen-der-initiation-trost-und-bedrohung/))
Kann eine freie Schule als derzeit die reformpädagogischste Schulform damit konkurrieren?
Hierzu bedürfte es einer zweiten Untersuchung. Mein Erlebnis kann mit der Untersuchung von Rademacher ganz sicher nicht konkurrieren. Und doch möchte ich an zwei Stellen zeigen, dass schon allein der Verzicht auf eine Schulleiterrede auf eine deutlich andere Schulkultur hinweist.
Schneewittchen und das Einhorn
Die Einschulungsfeier eröffnete eine Theatergruppe mit einer freien Auslegung von Schneewittchen. Nachdem Schneewittchen vom vergifteten Apfel abgebissen hat und von einem Waldtier tot im Wald gefunden wurde, offenbarte sich die freie Auslegung in seinen vollen Zügen: Das kleine Waldtier zückte sein Handy und rief die zehn Zwerge an. Damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Das Publikum feierte.
Als die Zwerge schlussendlich Schneewittchen mit dem Horn eines Einhorns wiedererweckt haben, war klar, dass hier alles möglich wird.
Schon allein das Thema aus Star Wars, das beim Auftritt der bösen Königin aus den Lautsprechern tönte, hat nicht nur das Publikum erheitert. Es war klar: Dieses Stück stammt von den Kindern, die sich unermüdlich mit der Film- und Medienwelt auseinandersetzten.
Dass die Feier in den Händen der Kinder war, setzte sich fort:
Im Anschluss an das Theaterstück haben die Kinder der höheren Jahrgänge jeweils zu zweit oder zu dritt den Erstklässlern die Schultüten überreicht.
Zwei Mädchen aus höheren Klassen riefen die einzelnen Pädagogen auf die Bühne und stellten die Teams vor. Anschließend sind die nun eingeschulten Kinder mit einem Team in den Gruppenraum gegangen. Ich erfuhr später, dass sie dort ein Spiel gespielt hätten.
Initiation der Familie am Buffet
„Wir nehmen keine Kinder, sondern Familien auf“ hörte ich häufig auf Infoabenden von freien Schulen((Da wir in zwei Bundesländern suchen mussten, waren es einige.)). Eine Haltung, die ich nur begrüßen kann. Wie werden die Familien aufgenommen?
Es war das Buffet, das sich als Inititationsort für Familien gezeigt hat: Die Schulanfänger und wir als Familien durften das für die Kinder sehr attraktive Buffet eröffnen. Ich spürte ganz konkret, dass die Schule keine Kinder, sondern Familien aufnimmt.
Kinder im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt der Feier standen also die Kinder selbst: Im Theaterstück und der Vorstellung der Teams die höheren Jahrgänge, bei der Übergabe der Schultüten die Erstklässler.
Meine immer noch unendliche Freude über unser Glück, einen Platz an solch einer Schule bekommen zu haben, stimmt mich nicht nur äußerst positiv ein:
Anstatt wie eine Fliege immer nach dem Müll zu suchen, nehme ich wie eine Biene nur Blumen wahr. Alles krumme, schiefe, verdächtige nehme ich nicht wahr. Insofern kann ich ein Entsetzen einiger Leser über solch eine unwissenschaftliche Gegenüberstellung sehr gut verstehen.
Dass ich als Erziehungswissenschaftlerin nach sechs Jahren Schulforschung den staatlichen Schulen und Schulen, die immer noch auf die heilige Kuh Unterricht setzen, nichts mehr abgewinnen kann, will ich nicht verstecken. Für meine erneute Aufnahme der Tätigkeit als Schulforscherin bin ich wahrscheinlich inzwischen zu sehr desillusioniert.
Es wäre sicherlich spannend, Einschulungsfeiern als körperliche Akte zu untersuchen, um einen Vergleich zwischen staatlichen und ernsthaft freien Schulen zu ermöglichen.
Dieser Beitrag soll lediglich aufzeigen, dass sich bereits in der Einschulungsfeier die Himmelsrichtung einer Schule zeigt: Trost und Bedrohung oder Kindzentriertheit und Freude.
Würdest du auch verraten an welcher freien Schule dein Sohn und ihr nun seid?
Ja klar. Es ist die Freie Schule Pankow.