Theo ist neun Jahre alt. Er hat sich niemals schwer verletzt. Unterwegs ergreift er jede erdenkliche Möglichkeit, zu klettern, balancieren oder springen. „Er verbrachte den ganzen Tag auf einem Baum“, berichtete letzte Woche die Pädagogin seines Kinderladens.
Ich dagegen hatte mit sechs Jahren nach einem Sturz auf einen Betonboden einen wochenlangen Krankenhausaufenthalt bereits hinter mir: 5 cm langer Schädelbruch. Leichtere und schwere Verletzungen mit Gips folgten im Grundschulalter. Der Sportunterricht war mein schlechtestes Fach. Jede Sportbefreiung war ein Segen. Jahrelanges Cellospiel, das mit sieben Jahren begann und das Tragen des schweren Instruments auf einer Schulter, ist mein Körper fast ein Wrack. Yoga, KungFu, Joggen helfen heute enorm.
Vorab: Eine unfallfreie Kindheit gibt es nicht. Kleinere Verletzungen sind ein Teil des Aufwachsens. Das Problem stellen schwere Verletzungen dar. Diese müssen vermieden werden.
Es gibt jedoch Kinder mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, die sich besonders in den ersten Lebensjahren entwickeln können. Solche Kinder erleiden in der Regel sehr selten schwere Verletzungen.
Es geht vor allem um Selbstsicherheit, die Fähigkeit Gefahren gut einschätzen zu können und eigene motorische Grenzen zu kennen.
1. Warum sich Theo bislang nicht verletzt hat und die Freude an der Bewegung beibehalten hat
Wächst Theo in einer besonders sicheren Umgebung auf? Nein.
Passe ich besonder gut auf ihn auf bzw. ist er besonders behütet? (Mit einem Einzelkind geht es leicht.) Nein.
Geht Theo zum Kinderturnen oder betreibt eine Sportart? Nein.
Ist es übervorsichtig oder ängstlich? An Land gar nicht. Vor dem Wasser hat er Respekt.
Ist er motorisch besonders begabt oder überdurchschnittlich entwickelt? Auch nein – ein ganz normales Kind.
Ist er auf dem Land aufgewachsen? Nein.
Was sind also Bedingungen für eine unfallfreie Kindheit?
2. Theos Geschichte freier Bewegungsentwicklung
Theo darf sich ab dem vierten Monat frei bewegen. Nachdem er deutlich signalisiert hat, dass er das Üben der Bauchlage nicht erträgt, haben wir den Kurs um 180 Grad geändert. Ab jetzt: Vertrauen, Zeit geben bzw. nichts forcieren und einfach machen lassen (natürlich nur, wenn die Umgebung sicher ist.) Wir erkannten zwar relativ spät, dass eine feste Unterlage während der Spielzeit tagsüber für das Drehen und später Kriechen sehr hilfreich ist, aber schlussendlich hat Theo die Drehung schnell nachgeholt, nachdem wir ihn auf einem Holzboden oder dünnen Teppichboden legten.
In Theos Zimmer befindet sich ein 2 m langes Rutschbrett, welches wir an unterschiedlich hohen Stufen befestigen können. Die Stufen bauen wir immer wieder zu unterschiedlichen Ensembles zusammen.
Als Theo ein Jahr wird, verlassen wir für drei Monate Europa und machen eine Asienreise. Zwar sind die Unterkünfte für einen krabbelnden Säugling nicht immer optimal ausgestattet, aber wir lassen Theo Treppen hochklettern, bei wenigen Stufen kopfüber herunterklettern, Stühle schieben und überall, wo es möglich ist, krabbeln.
In dieser Zeit sind wir eine glückliche Familie. Niemand bewertet unser Handeln, niemand bewertet Theos motorische Entwicklung. Auch wir genießen jeden Augenblick und folgen einfach unserem Kind.
So zeigt uns Theo, dass man eine Rutsche zunächst von unten erobert. Die meisten Kinder auf einem Spielplatz in Singapur warten geduldig, bis das blonde Baby die Rutsche wieder frei gibt. Auch sie fangen an, die Schuhe auszuziehen und klettern die heiße Rutsche hoch.
Nach der Rückkehr aus Asien bekommt Theo ein Sprossendreieck, etwas später eine Hühnerleiter und eine Sprossenwand. Theo verbringt viel Zeit draußen in Parks und wir bleiben stets bei der freien Bewegungsentwicklung: angemessene Umgebung anbieten, vertrauen, Zeit geben, nicht in Positionen versetzen, die er von alleine nicht erreichen kann, keine Bewegungsaufgaben stellen, nicht übermäßig loben, sich einfach über seine selbstgestellten Aufgaben und den Umgang damit freuen.